Kunstwerke
Über Loredana Nemes
Beyond – Fremde Heimat
Nemes‘ konzeptionelle Serie "beyond" (2010) beginnt im Grunde schon 1984. Während eines sechsmonatigen Aufenthalts im Iran erlebt die damals 12-jährige Loredana Nemes die Kultur der getrennten Lebensräume für Männer und Frauen als völlig fremd und radikal andersartig. So eine Tradition gab es in ihrem Heimatland Rumänien nicht. Neugierig, wie sie schon immer war, klopfte sie an die Tür eines Raums, der ausschließlich Männern vorbehalten war. Sie hatte sich einen Vorwand einfallen lassen, warum sie unbedingt ihren Vater sprechen müsse. „Ohne abzuwarten, dass man mich einließ, öffnete ich die Tür und sah, wie eine große Shisha, eine Wasserpfeife, rumgereicht wurde. Alles war so neblig, verraucht“, erinnert sich die Künstlerin und betont, dass sie diese unbekannte Umgebung geheimnisvoller fand als die sichtbare Umgebung der Frauen, die sie als „erfassbar“ erlebte, weil hier gekocht, gegessen und gespielt wurde.
26 Jahre später fotografierte sie bei Nacht türkische Berliner Cafés und deren männliche Besucher, die sie hinter den milchigen Glasscheiben dieser verhüllten Orte porträtierte. Entstanden sind dabei keine Porträts im konventionellen Sinne, sondern erstaunliche Nahansichten verschleierter Männergesichter. „Ich fotografiere ihre Außenmembran, die uns die Innenwelt nur schemenhaft andeutet und die Trennung zwischen den Welten visualisiert", schreibt die Künstlerin über dieses Sinnbild einer kulturellen Kluft. In ihrer neuen Serie "Der Auftritt" lässt sie in der Außenmembran ihrer Protagonisten eine Öffnung entstehen, durch die wir Einsicht erhalten in eine verborgene, innere Welt von stiller Schönheit jenseits gesellschaftlicher Maßregeln.
Blütezeit
Wir kennen Diptychen oder Triptychen hauptsächlich aus der christlichen Ikonografie. In der zeitgenössischen Porträtfotografie sind sie nicht zu finden. Umso erstaunlicher ist es, dass Loredana Nemes bei ihrer Serie „Blütezeit“ zu dieser ungewöhnlichen Darstellungsform griff, um eine Arbeit über den besonderen Lebensabschnitt der Adoleszenz zu machen. Es ist die Zeit, in der die Clique, Gang oder Freundesschar zur Zweitfamilie wird und so waren es die Gruppen, die Loredana Nemes interessierten. Doch sie merkte schnell, dass es ihr unmöglich war, sich auf mehrere Personen gleich stark zu konzentrieren.
Als Ausweg wählte sie eine Methode, die inhaltliche und formale Konsequenzen nach sich zog: Sie bat die auf den Straßen getroffenen Jugendlichen, sich spontan vor neutralen Wänden zu positionieren, fotografierte sie jedoch einzeln, indem Nemes mit Kamera und Stativ jeweils ein Stück weiterrückte, bis sie jedem Akteur von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand. Nachträglich fügte sie das fragmentierte Bild erneut zu einem Ganzen zusammen. Die parallelen Blickbeziehungen, die durch diese scheinbar paradoxe Arbeitsweise entstanden, führten zu einer für das Genre Gruppenporträt ungewöhnlichen Intensität. Außerdem integrierte Loredana Nemes durch diese Arbeitsweise den Aspekt der verstreichenden Zeit, der entscheidend für die beeindruckende Wirkung dieser Serie ist:
die von einer Aufnahme zur anderen aufkeimende Bewegung der Protagonisten wird von der Fotografin in ihren partitionierten Portraits wiedergegeben. Der filmisch anmutende Effekt gibt somit Einblick in die Beziehungsgeflechte dieser so schönen wie fragilen Lebenszeit.
Der Auftritt
Während der Karneval die Straßen im Westen Deutschlands verwandelt, baut Loredana Nemes am Rathaus von Aachen einen schwarzen Stoff auf, stellt einen Stuhl davor, holt Menschen aus dem Chaos heraus und bittet sie zum Portrait. Für ihren Auftritt an Weiberfastnacht und Rosenmontag sind sie in Rollen geschlüpft, die sie nun auf dieser temporären Bühne ein weiteres Mal spielen dürfen.
Nemes wählt intuitiv die wenig aufwendig kostümierten Menschen aus, greift aus dem maximalen Angebot möglicher Verkleidungen, mittels derer Wunschfiguren und Traumvorstellungen inszeniert werden, zur minimalsten Maskierung. Ihre Darsteller bieten in der reduzierten Eindeutigkeit ihrer Rolle eine breite Assoziationsfläche – jeder kann hier etwas anderes sehen. Wie gute Schauspieler vereinen sie eine starke Präsenz mit der Fähigkeit, ihr Ich zu verhüllen. Sie sind unauffällig und in ihrer zarten Brüchigkeit schwer greifbar. Obwohl sie bereit sind, sich auf der Bühne für einen kurzen Moment zu exponieren, verstecken sie sich, als trügen sie ein besonderes Geheimnis in sich.
So spielt die blond gelockte Prinzessin verstohlen mit ihren Fingern, während sie scheu der Kamera antwortet. Oder der Mann mit den zwei Tröten auf dem Kopf: ein vom Wahnsinn gepackter, der bald etwas Gewagtes tut? Oder eher einer, der seinen Auftritt nutzt, um uns zu verwirren? Und der Junge mit der schwarzen Maskeist das Batmans Assistent Robin? Oder gar ein Panzerknacker? Für beides ist er eigentlich zu zart, zu transparent. Nemes spricht während der Aufnahme fast gar nicht, lässt trotz des sie umgebenden Wahnsinns inmitten des rheinischen Karnevals Stille aufkommen, die den Charakter dieser intensiven Aufnahmen ausmacht. Es ist, als befänden sich die Portraitierten wie im Transit zwischen Unausgelebtem und Loslassen. Als würde der hohe Druck, den die Hitze des Sonderzustands erzeugt, ein Loch in ihrer Stratosphäre erzeugen, wie ein Ventil, durch das sich innere Energien den Weg bahnen. Die Exaltiertheit dieser fünften Jahreszeit befördert Inneres nach außen und jene zurück gehaltenen Seiten der Seele tun sich auf, jene Abgründe, die im Normalzustand verdeckt bleiben. Es ist, als hätte die Katharsis eine Reinheit, fast Heiligkeit erzeugt, die diesen Portraits inne wohnt. Visuell findet das Gegenteil einer Explosion statt. Es ist, als würde der schwarze Stoff im Hintergrund sämtliche Geräusche aufsaugen. Als sei ein Nullpunkt erreicht, von dem aus sich alles Weitere neu definiert. Dabei egalisiert die neutrale Versuchsanordnung alle Dargestellten und es entsteht eine überindividuelle Verbindung jenseits von Alter, Geschlecht oder Herkunft. War nicht die Gleichstellung von Sklave und Herr seit Anbeginn ein charakteristisches Merkmal des Karnevals? Man kann nicht umhin an Spielkartenfiguren zu denken. Dame, König, Bube und Soldat blicken uns an.
Das Arrangement erinnert an Gemälde wie Diégo Vélazquez‘ Papst Innozenz X., aber auch an Félix Nadars von Hintergrundstaffagen bereinigte fotografische Portraits französischer Berühmheiten des 19. Jahrhunderts, an Julia Margaret Camerons Inszenierungen religiös-romantischer Szenen, August Sanders Bauernportraits oder Hiroshi Sugimotos in Renaissancekostüme gekleidete Wachsfiguren. Aber all diese Vergleiche funktionieren nicht. Es sind weder Herrscherportraits noch psychologische Studien oder soziologische Typenbetrachtungen. Loredana Nemes bedient sich einer konzeptionellen Herangehensweise, um Phänomene menschlicher Sonderzustände zu verbildlichen. Wenngleich ihre Modelle vom überspringenden Funken der Individualität leben, stellen sie keine Individuen dar. Am nahesten ist ihre Vorgehensweise der Hellen van Meenes, die ihre „Schauspieler“ innerhalb einer festgelegten „mise en scène“ leitet, die aber offen bleibt für zufällige Veränderungen im Prozeß. Nemes‘ Arbeit beyond (2010) war ähnlich konzeptionell angelegt. Bei Nacht fotografierte sie türkische Berliner Cafés und deren männliche Besucher, die sie hinter den milchigen Glasscheiben dieser verhüllten Orte portraitierte. Entstanden sind dabei keine Portraits im konventionellen Sinne, sondern erstaunliche Nahansichten verschleierter Männergesichter. »Ich fotografiere ihre Außenmembran, die uns die Innenwelt nur schemenhaft andeutet und die Trennung zwischen den Welten visualisiert«, schreibt die Künstlerin über dieses Sinnbild einer kulturellen Kluft. In ihrer neuen Serie Der Auftritt lässt sie in der Außenmembran ihrer Protagonisten eine Öffnung entstehen, durch die wir Einsicht erhalten in eine verborgene, innere Welt von stiller Schönheit jenseits gesellschaftlicher Maßregeln.
Von Christiane Stahl
Ausstellungen
Einzelausstellungen
2024
- Nov. 30, 2023 – Feb. 10, Greytree and Heavensea Podbielski Contemporary, Mailand, Italien
2023
- "Trees, Seas and the Bee’s Knees", Galerie Springer, Berlin
- "Greytree and Heavensea", Chaumont-Photo-sur-Loire, Frankreich
2022
-März 20 – Juni 6,"Greytree and Heavensea", Stadthaus Ulm, Deutschland
-Sept. 4 – Okt. 23, "beautiful" Kommunale Galerie, Berlin, Deutschland
-Feb. 19 – April 17, "Passion Portrait", Kunstverein Konstanz, Deutschland
2021
- "Immergrün",Ludwigsburg Museum, Deutschland
- "beautiful", Ludwig Forum, Aachen, Deutschland
2018 Gier Angst Liebe, Berlinische Galerie, Berlin (Katalog)
2017 Nadelstreifen, DZ Bank, Frankfurt a. M.
2016 Nadelstreifen, Podbielski Contemporary, Berlin (Katalog)
2016 Portraits, Raum für Kunst, Aachen (Katalog)
2014 Der Auftritt, Podbielski Contemporary, Berlin (Katalog)
2012 Blütezeit, Städtisches Museum Ludwigsburg
2011 beyond, Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin
2010 Männer, Baukunst Galerie, Köln
2010 About Love, Schloss Neuhardenberg, Neuhardenberg
2010 beyond, Museum Neukölln, Berlin
2009 Portraits, Galerie Tengri Umai, Almaty, Kasachstan
2008 Von Männern, Anna Augstein Fine Arts, Berlin
2008 Under Ground, Museum für Kommunikation, Berlin
2006 Under Ground, Galeria de Arta a Muzeului Brukenthal, Sibiu, Rumänien
2006 Under Ground, Galerie Camera Work, Hamburg
2003 Behind the Curtain, Stadtmuseum Münster (Katalog)
Gruppenausstellungen
2020 Street Life Photography, Museum Winterthur, Wien
2019 1000 Wirklichkeiten - 100 Jahre GDL/DFA, Deichtorhallen, Hamburg
2017 WeltenWanderer, Kunstmuseum Mühlheim, Mühlheim a. d. Ruhr (Katalog)
2015 Das sind wir. Portraitfotografie von 1996 bis 2013, Berlinische Galerie, Berlin
2015 I look at the Window, Kommunale Galerie, Berlin
2015 HeimatX, Wiesbadener Fototage, Kunsthaus Wiesbaden
2015 Naturzeichenzeichnen, Alfred-Ehrhardt-Stiftung, Berlin
2014 Dekalog III – „Du sollst den Feiertag heiligen“, Guardini Galerie, Berlin
2014 Landschaft im Dekolleté, Fenster als Element und Metapher, Opelvillen, Rüsselsheim
2014 Mannsbilder, DZ Bank Art Foyer, Frankfurt am Main (Katalog)
2014 Heimat, NRW Forum, Düsseldorf
2013 Loredana Nemes und Winter / Hoerbelt , Galerie Anita Beckers
2013 Blütezeit, KraftWerk, Autostadt Wolfsburg (zus. mit Bettina Pousttchi)
2012 Religion und Riten, DZ Bank Art Foyer, Frankfurt am Main (Katalog)
2011 Oxfordshire Artweeks, Cropredy, Großbritanien
2010 Schwarzweiß, Galerie Robert Morat, Hamburg
2010 beyond, Voies Off Festival, Arles
2009 Report. Henri Cartier-Bresson, Sibylle Bergemann, L. Nemes, Baukunst Galerie, Köln
2008 Love Affair, Anna Augstein Fine Arts, Berlin
2008 Tickle Attack, Backlight – Triennale für Fotografie, Tampere (Katalog)
2007 Under Ground, Galerie Ruhnke, Potsdam (zus. mit Gisela von Bruchhausen)
2005 Zirkus in Berlin, Museum Ephraim-Palais, Berlin (Katalog)
Publikationen
2014 Faces, Hrsg. und kuratiert von Peter Weiermair, Grafiche dell'Artiere
2013 Loredana Nemes, beautiful, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern
2011 Unscharf. Nach Gerhard Richter, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern
2010 Loredana Nemes, beyond, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern
2007 Richard Serra Sculpture. Forty Years, The Museum of Modern Art, New York
2007 Loredana Nemes, Under Ground, ConferencePoint Verlag, Hamburg
2003 Loredana Nemes, Behind the Curtain, Eigenverlag, Berlin
Auszeichnungen, Sammlungen
2018 Shortlist des Nannen-Preises in der Kategorie „Inszenierte Fotografie“ mit Nadelstreifen
2016 Lead Award in der Kategorie „Portrait“ für beyond
2013 Wins the stipend Grenzgänger of the Foundation Robert Bosch for the work beautiful
2012 Wins the photography competition Foreign, Reisebank Frankfurt a. M.
2012 Awarded the City Ludwigsburg stipend for the realization of a photographic work and a solo exhibition in the Museum Ludwigsburg
2011 beyond comes into the selection of the Deutscher Fotobuchpreis 2011
2011 Wins the Prize of the European Month of Photography Berlin 2010 for the work beyond
2010 Selected to be shown at the New Positions booth at Art Cologne for the work beyond
2008 Under Ground comes into the selection of the Deutscher Fotobuchpreis 2008
2007 Awarded Nomos Glashütte / SA stipend for the realization of the piece Glashütte
2006 Awarded the VG Bild-Kunst stipend for the realization of the project Sibiu, Romania
Sammlungen
Folkwang Museum, Essen
Olbricht Collection, Berlin
Berlinische Galerie, Berlin
Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg
Camera Work AG, Berlin
Nomos Glashütte / SA
Stadtmuseum Berlin
Museum für Kommunikation, Berlin
Deutsches Historisches Museum, Berlin
Richard Serra, New York
GSW, Berlin
Sammlung der Investitionsbank Berlin
Städtisches Museum Ludwigsburg
Art Collection Cleveland Clinic, Cleveland
und in zahlreichen privaten Sammlungen